Der Blick der Staatsmacht ist nicht allein auf das Gebiet der DDR gerichtet. Das MfS überwacht und kontrolliert auch aus der DDR geflüchtete Personen. Der Sport, ein Vorzeigebereich des SED-Staates, ist erheblich vom Phänomen der „Republikflucht“ betroffen. Hunderte von Topathleten wenden sich von der DDR ab und suchen ihre Zukunft im Westen. Die Hoffnungsträger des sozialistischen Systems werden somit aus der Sicht der DDR-Führung zu Verrätern. Im Fußball ist die Anzahl Geflüchteter von allen Sportarten im DDR-Leistungssportsystem am größten. Seit den 1950er Jahren verlassen zahlreiche Spieler und Trainer die DDR, um in den Oberligen Westdeutschlands und später in der Bundesliga anzuheuern. Zu den bekanntesten gehören der spätere Bundestrainer Helmut Schön, der FC-Bayern-Star Norbert Nachtweih und der 1983 in Braunschweig mysteriös zu Tode gekommene BFC-Dynamo-Star Lutz Eigendorf.
In einem „Zentralen Operativ Vorgang“ (ZOV) mit dem Namen „Sportverräter“ sammelt die Staatssicherheit Informationen über die Abtrünnigen. Die Betroffenen und ihre Familien in Ost und West sind Ziel eines Überwachungsnetzwerks, das bis in die Bundesrepublik – das „Operationsgebiet“ – reicht. Hier sind westdeutsche Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS aktiv, die zuweilen auch fotografisch das Lebensumfeld der Geflüchteten ausspionieren und fast kartografisch festhalten: Wohnungen, Autos und der Weg zum Training.
Norbert Nachtweih wird ebenso wie sein geflüchteter Mannschaftskollege Jürgen Pahl nach seiner Flucht durch das MfS observiert. Das Kameraobjektiv des Stasi-IM hat das Trainingsgelände der Frankfurter Eintracht fest im Blick. Nachtweih wird 1979 nach dem Training auf dem Parkplatz beim Einsteigen in sein Auto fotografiert. (1)
Der DDR-Jugendauswahlspieler Norbert Nachtweih flüchtet 1976 zusammen mit seinem Mannschaftskollegen Jürgen Pahl bei einem Spiel der DDR in der Türkei in die Bundesrepublik. Nachtweihs Bundesliga-Karriere von 1978 bis 1989 ist beeindruckend: Als Spieler des FC Bayern München und von Eintracht Frankfurt wird er vier Mal Deutscher Meister, drei Mal DFB-Pokalsieger und gewinnt den UEFA-Pokal. (3)
Das MfS fängt im April 1979 nach dem Bundesligaspiel zwischen Eintracht Frankfurt und dem 1. FC Kaiserslautern fotografisch ein Gespräch zwischen Lutz Eigendorf und dem 1976 aus der DDR geflüchteten Fußballer Jürgen Pahl vor dem Stadion in Frankfurt ein. Das MfS vermutet, dass Pahl Eigendorf bei dessen Flucht 1979 geholfen hat. (7)
Observationsfoto des MfS: Der 1979 bei einem Freundschaftsspiel des BFC Dynamo beim 1. FC Kaiserslautern (FCK) geflüchtete und 1983 bei einem Autounfall in Braunschweig zu Tode gekommene BFC-Dynamo-Star Lutz Eigendorf wird durch einen Taxifahrer mit dem Decknamen IM „Schlosser“ in Kaiserslautern bespitzelt. Er hält den Alltag Eigendorfs und seiner Freundin penibel auf Fotos fest. Die unscharfe Aufnahme zeigt Eigendorf auf dem Trainingsplatz des FCK. (9)
Selbst der Klingelknopf der Mietwohnung Eigendorfs wird durch den Stasi-IM fotografiert. Die originale Beschriftung des Fotos lautet: „Links oben Eigendorf“ und „schwarze Felder = Apartment zu vermieten“. Sie legt die mögliche Absicht des MfS offen, in der Nachbarwohnung Stasi-Spitzel zu platzieren. (10)
Der Parkplatz des Trainingsgeländes des 1. FC Kaiserslautern mit dem Fahrzeug von Lutz Eigendorf mit dem Nummernschild KL-LE 77. Die gesamte Serie der Observationsfotos des MfS zu Lutz Eigendorf zeigt deutlich, dass Fuß- und Fahrwege von Lutz Eigendorf in Kaiserslautern penibel dokumentiert worden sind. (11)
Der 1976 zusammen mit Norbert Nachtweih während eines Spiels der DDR-Juniorenauswahl in der Türkei in die Bundesrepublik geflüchtete Torwart Jürgen Pahl ist im Fokus des MfS. Pahl wird beim Bundesligaspiel von Eintracht Frankfurt gegen den 1. FC Kaiserlautern im Frühjahr 1979 fotografiert. (12)
Jürgen Pahl gibt im April 1979 Eintracht-Fans vor dem Frankfurter Waldstadion nach dem Spiel der Eintracht gegen den 1. FC Kaiserslautern Autogramme. (13)
Die Jungstars des BFC Dynamo Dirk Schlegel und Falko Götz setzen sich Anfang November 1983 bei einem Europapokalspiel ihres Clubs in Belgrad von der Mannschaft ab und flüchten in die Bundesrepublik. Beide schließen sich dem Bundesligisten Bayer Leverkusen an. (15, 16)
An der Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße in Ost-Berlin wird 1987 ein französischer Staatsbürger festgehalten. Er führt ein Adressbuch mit, das die Grenzorgane beschlagnahmen. Auf einer Seite ist die Postadresse von Falko Götz niedergeschrieben. Die Sicherheitskräfte schlagen Alarm, da vermutet wird, dass hier eine Kontaktperson zu der in Ost-Berlin lebenden Familie von Falko Götz einreist. (17)
Bereits kurze Zeit nach ihrer Flucht ist die Stasi den Geflüchteten sehr nahe. Götz und Schlegel,
die nun eine einjährige Sperre für den Wettkampfbetrieb in der Bundesliga aufgrund des Verbandswechsels überbrücken müssen, nehmen am Training der Leverkusener Werkself teil. In der Fotodokumentation befinden sich unscharfe Aufnahmen, die Dirk Schlegel am 5. Dezember 1983 beim Training zeigen. (18)
Das MfS ist über die von Falko Götz und Dirk Schlegel genutzten Autos im Bilde. In der Foto-Dokumentation über das private und berufliche Umfeld der ehemaligen BFC-Dynamo-Stars werden Fabrikate, Farbe und Nummernschilder dokumentiert: roter BMW von Falko Götz von vorn. (19)
Während der Zeit der einjährigen Sperre arbeiten Falko Götz und Dirk Schlegel im konzerneigenen „Bayer-Kaufhaus“. Die Arbeitsstätte der beiden Spieler ist ebenfalls Teil der Foto-Dokumentation des MfS. Das MfS ist innerhalb kürzester Zeit über das Wohnumfeld, die Autos, Wege zur Trainings- und Arbeitsstätte informiert. Diese Aufnahmen lassen Interpretationsspielraum für die möglichen Absichten des MfS zu. Im 1962 verfassten MfS-Dokument „ZOV Sportverräter“ ist als Ziel formuliert, dass die Geflüchteten „entweder für die DDR wiederzugewinnen sind“ oder „ihre sportliche Laufbahn in der Westzone zu verhindern“ sei. Die Herbeiführung von Unfällen durch Manipulation an Fahrzeugen oder mögliche Entführungen sind als geheimdienstliche Praktiken des MfS bekannt. (24)
Erster Wohnort von Falko Götz und Dirk Schlegel in Leverkusen nach der Flucht und dem Aufenthalt im Notaufnahmelager Gießen 1983: Das Hotel „Kürten“. Die Bayer AG organisiert über den konzerneigenen Wachdienst Schutzmaßnahmen vor möglichen Zugriffen des MfS. (25)
Auto von Dirk Schlegel im Jahr 1984: ein silberfarbener Ford Capri. (26)
Mannschaftsfoto der DDR-Jugendauswahl mit Falko Götz (1. Reihe, 1. von links) 1978: Ganz links stehend ist der damalige Trainer Jörg Berger zu sehen. Berger flüchtet 1979 ebenso wie Götz und Schlegel über Jugoslawien in die Bundesrepublik und ist der Stasi deshalb als Fluchthelfer verdächtig, insbesondere nachdem er die Beiden an Bayer Leverkusen vermittelt hat. (27)
Das MfS hat die Fahrstrecke der beiden Spieler von ihrem Wohnort zum Stadion von Bayer Leverkusen dokumentiert. Verdeckt aus dem Auto heraus werden die Teilstrecken fotografiert. (28)
MfS-Dokumentation des Fahrweges von Götz und Schlegel zum Stadion: Teilstrecke Ebert-Straße in Leverkusen, rechts Gelände und Gebäude der Bayer AG. (30)
MfS-Dokumentation des Fahrweges von Götz und Schlegel zum Stadion: Teilstrecke Ebert-Straße in Leverkusen, rechts Gelände und Gebäude der Bayer AG. (31)
MfS-Dokumentation des Fahrweges von Götz und Schlegel zum Stadion: Umkleidekabinen vor dem Stadion von Bayer Leverkusen mit Parkplatz für die Spieler des Vereins. (32)
Mielke und der BFC
1: Bundesarchiv, MfS AP Nr. 3068/92, Seite 54
2: Bundesarchiv, MfS AP Nr. 3068/92, Seite 12
3: Bundesarchiv, MfS AP Nr. 2850/92
4: Bundesarchiv, MfS AP Nr. 3068/92, Seite 6
5: Bundesarchiv, MfS AP 3069/92 Seite 5
6: Bundesarchiv, MfS AP 3069/92 Seite 9
7: Bundesarchiv, MfS AP Nr. 3068/92, Seite 46
8: Bundesarchiv, MfS AP 3069/92 Seite 45, Bild 1
9: Bundesarchiv, MfS ZKG Fo 28 Bild 233
10: Bundesarchiv, MfS ZKG Fo 28 Bild 32
11: Bundesarchiv, MfS ZKG Fo 28 Bild 156
12: Bundesarchiv, MfS AP 3069/92 Seite 45, Bild 2
13: Bundesarchiv, MfS AP 3069/92 Seite 46, Bild 1
14: Bundesarchiv, MfS ZKG Fo 28 Bild 71
15/16: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 5+6
17: Bundesarchiv, MfS ZKG 3279 Bild 295
18: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 112
19: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 15
20/21/22: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 60, Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 57 + 62
23: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 44
24: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 69
25: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 13
26: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 16
27: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 12
28: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 57
29: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 59
30: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 58
31: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 58
32: Bundesarchiv, MfS ZKG 3271 Bild 62